Ab wann bin ich behindert?

Ab wann bin ich behindert?

Blauer Hintergund in der Mitte ist eine einfache weiße Figur einer Person die sich an den Kopf fasst. Über dem Kopf ist ein Fragezeichen. Um die Person hermum sind eine Krücke, ein Rollstuhl, eine Spritze und ein Stetoskop, medizinische Unterlagen und ein Schwerbehindertenausweis angeordnet.

Die Antwort auf diese Frage erscheint einfach. Häufig wird gesagt: „Wenn eine Person einen Schwerbehindertenausweis hat, ist sie behindert“.


Ungefähr zehn Prozent der Menschen in Deutschland haben eine anerkannte Schwerbehinderung, allerdings sind deutlich mehr Menschen behindert. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Zunächst stellt sich folgende Frage: Wer erkennt eine Schwerbehinderung an? Mitarbeiter*innen, des Versorgungsamtes, die überwiegend nicht-behindert sind, sichten die eingereichten Unterlagen und Diagnosen und teilen diesen einen Grad der Behinderung zu, dabei orientieren sie sich an vorgegeben Richtwerten. Das bedeutet z.B. für Diagnose xy gibt es einen GdB von 40-60, wobei erst ab 50 GdB ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt wird. Diese Zahlen zählen mehr, als die Aussagen über die eigene Lebensrealität. Der Prozess wird Behinderung nicht gerecht. Selbst, wenn zwei Menschen, die gleiche Diagnose haben und behindert sind, ist ihre Behinderung individuell.

Viele behinderte Menschen passen einfach nicht in die vorgefertigten Schubladen des Versorgungsamtes. Eine Behinderung ist komplexer, als eine Liste mit Diagnosen und dazugehörigen Zahlen. Aber auch der hohe bürokratische Aufwand, bei der Beantragung des Ausweises, kann für behinderte Menschen bereits eine Barriere darstellen, weil sie z.B. keine Kapazitäten dafür haben. 


Woran können wir eine Behinderung festmachen, wenn der Schwerbehindertenausweis nicht der Maßstab sein kann? 

In der UN-Behindertenrechtskonvention, kurz UN-BRK, findet sich folgende Definition: “Menschen die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.” Auch hier findet sich kein Bezug zu unseren ableistischen Strukturen.


“Behindert“ ist in erster Linie eine Selbstbezeichnung. Allerdings, ist es in unserer ableistischen Gesellschaft oft nicht einfach zu sagen: „Ich bin behindert.“

Das kann viele Gründe haben. Zum Beispiel wird unsere Selbstbezeichnung immer noch als Schimpfwort missbraucht. Außerdem wird Behinderung regelmäßig als “Worst-Case-Szenario”, also die schlimmstmögliche Wendung unseres Lebens, dargestellt. Nicht selten wird unsere Lebensrealität auch als Drohung verwendet. Man sagt also: „Du musst alles dafür tun, um nicht auch so zu enden.“ Aber anders, als uns von der Gesellschaft und auch dem Gesundheitssystem vermittelt wird, ist eine Behinderung nichts, was Menschen aktiv verhindern können.


Häufig bekommen behinderte Menschen beigebracht, dass sie Euphemismen nutzen sollen, weil nicht-behinderte Menschen sich damit besser fühlen. Ihnen wird gesagt: “Du bist nicht behindert, sondern besonders, oder anders begabt.” Dabei zeigen nicht-behinderte Menschen, wie unangenehm ihnen Behinderung ist. Dazu wird behinderten Menschen ihre Selbstbezeichnung abgesprochen und ihre Diskriminierungserfahrung wird unsichtbar gemacht. 

“Behindert“ ist kein böses Wort. Behinderung ist Teil unserer Lebensrealität und Identität und geht damit weit über einen Ausweis und Diagnosen hinaus. In unserem ableistischen System wird davon ausgegangen, dass Menschen einer vermeintlichen “Norm” entsprechen. Das bedeutet, dass ihre Körper normschön sein müssen und Fähigkeiten wie z.B. hören, sprechen, sehen und gehen vorausgesetzt werden.


Als behindert, kann sich jede Person identifizieren, die aufgrund ihres Leistungsvermögens, ihrer Fähigkeiten oder ihres Körpers dauerhaft nicht ins ableistische System passt und dadurch strukturelle Diskriminierung erfährt. Die strukturelle Diskriminierung, wegen der Behinderung, ist dabei der entscheidene Punkt. 

Behinderungen und die damit verbunden Erfahrungen sind sehr individuell. Dennoch finden sich Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen oft in Erzählungen über Diskriminierungserfahrungen von anderen behinderten Menschen wieder. Zum Beispiel werden sie als “zu anstrengend” betitelt; sollen sich “nicht so anstellen”, wenn sie Ableismus erfahren; sollen sich “zusammenreißen” und “härter arbeiten”, um endlich nicht-behindert zu sein; ihnen wird ausreichende medizinische Versorgung verwehrt; sie erfahren Medical Gaslighting… Die Liste ist unfassbar lang. 


Wenn du diesen Artikel liest und dich fragst: “Bin ich jetzt behindert oder nicht?”, während du täglich ableistischen Mikroaggressionen ausgesetzt bist, ist die Antwort: “Ja, du kannst dich als behindert identifizieren!”. In unserem ableistischen System ist es nicht einfach, diese zu erkennen, weil wir beigebracht bekommen, dass wir Behinderung “überwinden” können und sollen.


Das hier ist ganz bewusst keine Liste von Diagnosen oder vorhandenen und nicht-vorhandenen Fähigkeiten. Behinderung wird in Definitionen oft als Defizit und das Fehlen von Fähigkeiten, oder über die Beschaffenheit unserer Körper definiert. Dadurch wird das Merkmal Behinderung negativ besetzt. 

Uns behinderte Menschen verbindet eine Geschichte voller Unterdrückung und Diskriminierung in einer ableistischen Welt, die keine Möglichkeit auslässt, um uns zu zeigen, dass sie uns so nicht haben will.


Unsere 2 Cents

Um unsere individuellen Erfahrungen einfließen zu lassen, gibt es unter jedem Artikel Gedanken von uns.

Ein Kreis in grellem blau. Davor ein Foto von Luisa, einer weißen Frau Mitte 20 mit dunkelroten welligen Haaren, die ihr knapp bis zu den Schultern gehen. Sie trägt einen weißen Rollkragenpullover und ein schwarzes Kunstleder-Kleid mit breiten Trägern darüber.  Sie hält einen Arm angewinkelt und schaut neutral in die Kamera.

Luisa

Auch, wenn ich schon immer behindert war, identifiziere ich mich erst seit wenigen Jahren als das und erst zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, wie sehr ich dadurch einen Teil meiner Identität verleugnet habe. Mich behindert zu nennen, hat mich empowert, wie nie etwas zuvor.



Evilina

Für mich war es nie ein Thema mich als behindert zu identifizieren. Auch meinen Schwerbehindertenausweis bekam ich schon als Kind - dieser wurde jedoch anfangs nur befristet ausgestellt, weil man wohl der Meinung war mein Arm würde irgendwann nachwachsen?!
Zu dieser Selbstbezeichnung gehört aber noch viel mehr als nur zu sagen “mir fehlt der Arm, natürlich bin ich behindert”. Wir müssen weg davon unsere Diagnosen oder Symptome zu vergleichen, zu diskutieren “wie viel behindert” eigentlich “behindert genug” ist, denn das bringt uns im Kampf gegen strukturellen Ableismus nicht weiter.
Im Umkehrschluss darf das jedoch auch nicht dazu führen, dass sich Menschen, die eine Hausstauballergie haben oder eine Brille tragen, nun als behindert identifizieren. Durch meine Brille und den Heuschnupfen erfahre ich nämlich keine strukturelle Diskriminierung - durch meine Behinderung schon.


Ein Kreis in grellem blau. Davor ein Foto von Evilina, einer weißen FLINTA* Ende 20 mit langen dunkelblonden Haaren, wobei die vorderen Strähnen weißblond sind. Sie trägt ein ärmelloses schwarzes Top, ein Septum-Piercing in der Nase und eine braune runde Brille. Sie schaut neutral in die Kamera.

Ein Kreis in grellem blau. Davor ein Foto von Alina, einer weißen Frau Ende 20 mit mittellangen braun/blonden Haaren. Sie trägt ein schwarzes Oberteil und eine silberne Kette. Sie schaut neutral in die Kamera.

Alina

Ich habe mich lange nicht getraut, mich als behindert zu identifizieren,

weil ich Angst hatte Menschen etwas wegzunehmen. Mir wurden die Auswirkungen meiner Behinderung und die Symptome meiner chronischen Erkrankung abgesprochen, weil sie für Mediziner*innen so keinen Sinn ergeben. Es war sehr erleichternd, als ich meine Lebensrealität endlich benennen konnte. Dafür war es wichtig für mich persönlich, von anderen behinderten Menschen gesagt zu bekommen, dass ich mich behindert nennen darf.

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